Östlich von der Sonne und
westlich vom Mond
(norwegisches Volksmärchen, auf
dem der Titel des 4. A-ha Albums
"East Of The Sun, West Of The Moon" basiert)
Es war einmal ein armer Häusler, der
hatte viele Kinder, die er nur notdürftig ernähren und
nur ganz ärmlich kleiden konnte; schön waren sie alle,
aber am schönsten von ihnen war doch die jüngste
Tochter, sie war ganz über alle Maßen schön.
Nun war einmal an einem Donnerstagabend im Spätherbst
fürchterliches Wetter draußen; es war stockfinster, und
es regnete und stürmte, daß das Haus in allen Fugen
krachte.
Die ganze Familie saß um den Herd herum, und jedes hatte
irgendeine Arbeit vor sich. Da klopfte es plötzlich
dreimal laut an die Fensterscheibe. Der Mann ging hinaus,
um zu sehen, was es gäbe, und als er hinauskam, stand da
ein großer weißer Bär.
"Guten Abend", sagte der weiße Bär.
"Guten Abend", sagte auch der Mann.
"Willst du mir deine jüngste Tochter geben, dann
mache ich dich ebenso reich, wie du jetzt arm bist",
sagte der Bär.
Dem Mann gefiel es nicht übel, daß er so reich werden
sollte; aber er meinte doch, er müsse vorher mit seiner
Tochter sprechen. Er ging also wieder hinein und sagte,
es sei ein weißer Bär draußen, der habe versprochen,
ihn ebenso reich zu machen, wie er jetzt arm sei, wenn er
nur die jüngste Tochter zur Frau bekomme. Das Mädchen
aber sagte nein und wollte nichts davon wissen. Der Mann
ging wieder zu dem weißen Bären hinaus, und die beiden
kamen überein, daß der weiße Bär am nächsten
Donnerstag wiederkommen und sich Bescheid holen solle.
Indessen aber bearbeiteten die Eltern ihre Tochter und
schwatzten ihr von all dem Reichtum vor, zu dem sie
gelangen sollten, und wie gut es ihr selbst gehen würde.
Da willigte sie schließlich ein; sie wusch und flickte
ihre paar ärmlichen Kleider, schmückte sich, so gut sie
konnte, und hielt sich reisefertig. Und was sie mitbekam,
war auch nicht der Rede wert.
Am nächsten Donnerstag kam der weiße Bär, die Braut zu
holen. Das Mädchen setzte sich mit seinem Bündel auf
den Rücken des Bären, und er trabte davon. Nachdem sie
eine gute Strecke zurückgelegt hatten, fragte der Bär:
"Hast du Angst?"
"Nein, durchaus nicht", antwortete sie.
"Halt dich nur gut fest an meinem Fell, dann hat es
keine Not", sagte der Bär. Nun ritt sie auf dem
Rücken des Bären weit, weit fort, bis sie schließlich
an einen großen Felsen kamen. Da klopfte der Bär an,
und gleich ging eine Tür auf durch die sie in ein
großes Schloß hineingelangten mit vielen
hellerleuchteten Zimmern, wo alles von Gold und Silber
glänzte. Dann kamen sie in einen großen Saal; da stand
ein Tisch, der mit den herrlichsten Gerichten über und
über bedeckt war. Hier gab der weiße Bär dem Mädchen
eine silberne Glocke und sagte, wenn sie irgend etwas
haben wolle, brauche sie nur mit der Glocke zu klingeln,
dann werde sie es sogleich bekommen. Nachdem nun das
Mädchen gespeist hatte und es Abend wurde, fühlte sie
sich schläfrig von der Reise und hatte Lust, sich
niederzulegen und zu schlafen. Sie klingelte also mit der
Glocke; aber kaum hatte sie den ersten Ton erschallen
lassen, als sie auch schon in ein Zimmer versetzt war, in
dem das schönste Bett stand, das man sich nur wünschen
konnte, mit seidenen Kissen und Vorhängen mit goldenen
Fransen; und alles, was sich in dem Zimmer befand, war
auch von Gold und Silber. Doch als sie sich niedergelegt
und das Licht ausgelöscht hatte, kam ein Mensch herein
und legte sich neben sie. Der Mensch aber war der weiße
Bär, der in der Nacht seinen Pelz abwerfen durfte; das
Mädchen bekam ihn doch nie zu sehen, denn er kam immer
erst, wenn sie das Licht gelöscht hatte, und ehe es
morgens hell wurde, war er wieder verschwunden.
Eine Weile ging nun alles sehr gut; aber allmählich
wurde das Mädchen still und betrübt, sie war ja den
ganzen Tag mutterseelenallein, und so überkam sie ein
großes Heimweh nach ihren Eltern und Geschwistern. Der
weiße Bär fragte sie, was ihr denn fehle, da sagte sie,
sie sei immer so allein und wolle so schrecklich gern
ihre Eltern und Geschwister wiedersehen, und weil sie das
nicht könne, sei sie so traurig.
"Oh, das kann schon geschehen", sagte der
weiße Bär. "Aber du mußt mir versprechen, daß du
mit deiner Mutter nie allein reden willst, sondern nur,
wenn andere zugegen sind. Sie wird dich wahrscheinlich an
der Hand nehmen und dich in ihre Kammer führen wollen,
damit sie mit dir allein sprechen kann. Aber das darfst
du nicht zulassen, sonst machst du uns beide
unglücklich."
Eines Sonntags kam dann auch wirklich der weiße Bär und
sagte, jetzt könnten sie die Reise zu ihren Eltern
antreten. Sie setzte sich also auf den Rücken des
Bären, und der Bär machte sich auf den Weg. Nachdem sie
eine sehr weite Strecke zurückgelegt hatten, kamen sie
schließlich an ein schönes, großes, weißes Haus, vor
dem ihre Geschwister spielten und sich tummelten; und
alles war so reich und so prächtig, daß es eine wahre
Freude war, es nur anzusehen.
"Hier wohnen deine Eltern", sagte der weiße
Bär. "Vergiß nun nicht, was ich dir gesagt habe,
sonst machst du dich und mich unglücklich. " - Gott
bewahre, sie würde es sicher nicht vergessen, sagte das
Mädchen; und als sie vor dem Haus angekommen waren,
stieg sie ab, und der Bär kehrte wieder um.
Als die Tochter bei den Eltern eintraf, freuten sich
diese über die Maßen; sie sagten, sie könnten ihr
nicht genug dafür danken, was sie für sie getan habe,
jetzt ginge es ihnen allen miteinander ausgezeichnet.
Dann fragten sie, wie es ihr selbst ginge. Das Mädchen
sagte, es ginge ihr auch recht gut, und sie habe alles,
was sie sich nur wünschen könnte. Ich weiß nicht
recht, was sie ihnen noch weiter erzählte, aber ich
glaube nicht, daß sie ihnen alles genau mitteilte. Am
Nachmittag nun, als die Familie zu Mittag gegessen hatte,
ging es so, wie der weiße Bär vorausgesagt hatte; die
Mutter wollte drinnen in ihrer Kammer allein mit der
Tochter sprechen; die aber dachte daran, was der weiße
Bär gesagt hatte, und wollte nicht mit der Mutter gehen,
sondern sagte:
"Was wir miteinander zu besprechen haben, können
wir ebensogut hier sagen. " Aber - sie wußte selbst
nicht recht, wie es kam - schließlich überredete die
Mutter sie doch, und da mußte sie genau erzählen, wie
es ihr ging. Sie berichtete nun, sobald sie abends ihr
Licht gelöscht habe, komme ein Mensch und der lege sich
neben sie. Sie habe ihn aber noch nie gesehen, denn er
gehe immer fort, ehe es des Morgens hell sei. Darüber
gräme sie sich, denn sie wolle ihn doch so schrecklich
gern sehen, und am Tage sei sie allein, und es sei gar so
öde und einsam.
"0 weh, das ist am Ende ein Troll", sagte die
Mutter. "Aber ich will dir einen guten Rat geben,
wie du ihn sehen kannst. Hier hast du ein Stück von
einer Kerze, das verstecke unter deinem Brusttuch. Wenn
der Troll schläft, zünde das Licht an und betrachte ihn
dir. Nimm dich aber in acht, daß du keinen Tropfen Talg
auf ihn fallen läßt."
Die Tochter nahm das Licht und verbarg es an ihrem Busen,
und am Abend kam der weiße Bär, sie zu holen. Als sie
eine Strecke zurückgelegt hatten, fragte der weiße
Bär, ob es nicht geradeso gegangen sei, wie er gesagt
habe. Doch, es sei so gegangen, das Mädchen konnte es
nicht leugnen.
"Hast du auf den Rat deiner Mutter gehört, dann
machst du dich und mich unglücklich, und dann ist es aus
zwischen uns", sagte der Bär. 0 nein, erwiderte das
Mädchen, das habe es gewiß nicht getan.
Als sie zu Hause angelangt waren und das Mädchen sich zu
Bett gelegt hatte, ging es genau wie sonst: ein Mensch
kam herein und legte sich neben sie. In der Nacht aber,
als sie hörte, daß der Mensch fest schlief, stand sie
auf und zündete die Kerze an. Sie beleuchtete ihn und
sah den schönsten Prinzen, den man nur sehen konnte; er
gefiel ihr so über alle Maßen, daß sie meinte, nicht
länger leben zu können, wenn sie ihn nicht
augenblicklich küssen dürfte. Sie tat es; aber aus
Versehen ließ sie drei heiße Talgtropfen auf sein Hemd
fallen, und er erwachte.
"Ach, was hast du getan! " rief er. " Nun
hast du uns beide unglücklich gemacht: Hättest du nur
das Jahr ausgehalten, wäre ich erlöst gewesen! Ich habe
eine Stiefmutter, die mich verzaubert hat, daß ich bei
Tag ein Bär und bei Nacht ein Mensch bin; aber jetzt ist
es aus zwischen uns beiden, und ich muß zu meiner
Stiefmutter zurückkehren. Sie wohnt auf einem Schlosse,
das liegt östlich von der Sonne und westlich vom Mond;
dort ist eine Prinzessin mit einer drei Ellen langen
Nase, die muß ich jetzt heiraten."
Das Mädchen weinte und jammerte; aber es half nichts;
der Prinz sagte, er müsse abreisen. Da fragte sie, ob
sie ihn denn nicht begleiten dürfe. Nein, sagte er, das
gehe nicht an. "Aber kannst du mir nicht wenigstens
den Weg sagen, damit ich dich suchen kann. Denn das wird
doch wohl erlaubt sein?"
"Ja, das darfst du wohl", sagte er. "Aber
es führt kein Weg dahin. Das Schloß liegt östlich von
der Sonne und westlich vom Mond, und dahin findest du den
Weg nie und nimmer."
Als das Mädchen am nächsten Morgen erwachte, waren
sowohl der Prinz als auch das Schloß verschwunden; sie
lag auf einem grünen Platz mitten in einem dichten
dunklen Wald, und neben ihr lag das Bündel mit ihrer
armseligen Habe, das sie von Hause mitgebracht hatte. Als
sie sich nun den Schlaf aus den Augen gerieben und sich
satt geweint hatte, machte sie sich auf den Weg und
wanderte viele, viele Tage lang, bis sie endlich an einen
großen Berg kam. Vor dem Berge saß eine alte Frau und
spielte mit einem goldenen Apfel. Das Mädchen fragte die
Frau, ob sie nicht den Weg wisse zu dem Prinzen, der bei
seiner Stiefmutter auf dem Schlosse wohne, das östlich
von der Sonne und westlich vom Mond liege, und der eine
Prinzessin mit einer drei Ellen langen Nase heiraten
sollte.
"Woher kennst du ihn?" fragte die Frau.
"Bist du vielleicht das Mädchen, das er heiraten
wollte?"
"Ja, ich bin jenes Mädchen", antwortete sie.
"So, also du bist es?" sagte die Frau.
"Ja, mein Kind, ich weiß leider nichts von ihm, als
daß er auf dem Schlosse wohnt, das östlich von der
Sonne und westlich vom Mond liegt; und dahin gelangst du
wohl niemals. Aber ich will dir mein Pferd leihen, darauf
kannst du zu meiner Nachbarin reiten, vielleicht kann sie
dir Auskunft geben. Und wenn du dort angekommen bist, gib
dem Pferd nur einen Schlag hinter das linke Ohr und
befiehl ihm, nach Hause zu gehen. Und hier, nimm den
goldenen Apfel mit."
Das Mädchen setzte sich auf das Pferd und ritt lange,
lange Zeit; schließlich kam sie wieder an einen Berg,
vor dem saß eine alte Frau mit einer goldenen Haspel.
Das Mädchen fragte die Frau, ob sie ihm nicht den Weg
nach dem Schlosse sagen könne, das östlich von der
Sonne und westlich vom Mond liege. Die Frau sagte
dasselbe wie die vorige: nein, sie wisse nichts von dem
Schlosse, als daß es östlich von der Sonne und westlich
vom Mond liege. "Und dahin", sagte sie,
"kommst du wohl nie. Aber ich will dir mein Pferd
bis zu meiner nächsten Nachbarin leihen, vielleicht kann
sie dir Auskunft geben. Und wenn du bei ihr angekommen
bist, gib dem Pferd nur einen Schlag hinter das linke Ohr
und befiehl ihm, wieder nach Hause zu gehen." Zum
Schluss gab sie dem Mädchen noch die goldene Haspel,
denn sie könnte ihr vielleicht nützlich sein, sagte die
Alte.
Das Mädchen setzte sich nun auf das Pferd und ritt
wieder lange, lange Zeit. Endlich kam es abermals an
einen großen Berg, vor dem saß eine alte Frau und spann
an einem goldenen Rocken. Da fragte das Mädchen wieder
nach dem Prinzen und nach dem Schlosse, das östlich von
der Sonne und westlich vom Monde liege. Es ging auch
genau wie bei den beiden anderen Malen.
"Bist du vielleicht dieses Mädchen, das der Prinz
heiraten wollte?" fragte die Alte.
"Ja, ich bin dieses Mädchen " antwortete
sie.
Aber auch diese Frau wußte nicht mehr von diesem Weg
als die beiden anderen. "Ja, östlich von der Sonne
und westlich vom Mond liegt das Schloß, das weiß
ich", sagte sie. "Aber dahin gelangst du wohl
niemals. Ich will dir jedoch mein Pferd leihen, darauf
kannst du zum Ostwind reiten und ihn fragen; vielleicht
ist er dort bekannt und kann dich hinwehen. Und wenn du
bei ihm angekommen bist, gib dem Pferd nur einen Schlag
hinter das linke Ohr, dann kehrt es von selbst hierher
zurück." Zuletzt gab ihr die Frau auch noch ihren
goldenen Spinnrocken mit. "Vielleicht kann er dir
nützlich sein", sagte sie.
Das Mädchen ritt nun viele Tage und Wochen, und es
dauerte lange, lange, bis sie bei dem Ostwind ankam; aber
schließlich gelangte sie doch hin, und nun fragte sie
den Ostwind, ob er ihr den Weg zu dem Prinzen zeigen
könne, der östlich von der Sonne und westlich vom Mond
wohne.
O ja, von dem Prinzen habe er wohl reden hören, sagte
der Ostwind, und von dem Schlosse ebenfalls, aber den Weg
dahin kenne er nicht, denn er habe noch nie so weit
geblasen. "Wenn du aber willst, dann bringe ich dich
zu meinem Bruder, dem Westwind, vielleicht kann der dir
Auskunft geben, denn er ist viel stärker als ich. Setze
dich nur auf meinen Rücken, dann trage ich dich
hin."
Das Mädchen tat, wie ihm geheißen war, und nun ging es
gar rasch von dannen. Als sie bei dem Westwind angekommen
waren, sagte der Ostwind, er bringe hier das Mädchen,
das der Prinz habe heiraten wollen, der auf dem Schlosse
wohne, das östlich von der Sonne und westlich vom Mond
liege, sie sei auf der Reise zu ihm und suche ihn
überall; nun habe er sie hierher begleitet, um zu
hören, ob der Westwind wisse, wo dieses Schloß liege.
"Nein", sagte der Westwind zu dem Mädchen,
"so weit habe ich noch nie geweht; aber wenn du
willst, bringe ich dich zum Südwind, der ist viel
stärker als wir beide und weit und breit herumgekommen,
vielleicht kann der dir Auskunft geben. Setze dich auf
meinen Rücken, dann trage ich dich zu ihm."
Das Mädchen tat es, und nun zogen sie eilig dahin zum
Südwind. Als sie ankamen, fragte der Westwind, ob der
Südwind nicht den Weg nach dem Schlosse weisen könne,
das östlich von der Sonne und westlich vom Mond liege;
dies hier sei das Mädchen, das den Prinzen bekommen
sollte.
"Ach so, dies ist also das Mädchen!" rief der
Südwind. "Ja, ich bin allerdings in meinem Leben
weit herumgekommen", sagte er, "so weit jedoch
habe ich noch nie geweht. Wenn du aber willst, trage ich
dich zu meinem Bruder, dem Nordwind. Er ist der älteste
und stärkste von uns allen. Wenn der nicht weiß, wo das
Schloß liegt, kannst du es auf der ganzen Welt nirgends
erfahren. Setze dich mir auf den Rücken, dann trage ich
dich hin."
Das Mädchen setzte sich dem Südwind auf den Rücken,
und er flog davon, daß es nur so sauste und brauste. Die
Reise dauerte nicht lange.
Als sie die Wohnung des Nordwindes erreicht hatten, war
dieser so wild und ungebärdig, daß er sie schon von
weitem kalt anblies. "Was wollt ihr?" schrie
er, sobald er sie erblickte, so daß ihnen ein kalter
Schauder über den Rücken lief.
"Du mußt uns nicht so bös anblasen", sagte
der Südwind. "Ich bin es, der Südwind. Und das ist
das Mädchen, das der Prinz heiraten wollte, der auf dem
Schlosse wohnt, das östlich von der Sonne und westlich
vom Mond liegt; sie möchte dich fragen, ob du je dort
gewesen bist und ihr den Weg zeigen kannst; denn sie
möchte den Prinzen gern wiederfinden.
"0 ja, ich weiß schon, wo das Schloß liegt",
sagte der Nordwind. "Ich habe ein einziges Mal ein
Espenblatt hingeweht, aber da war ich so müde, daß ich
viele Tage lang nicht mehr blasen konnte. Wenn du aber
durchaus hinwillst und
dich nicht vor mir fürchtest, so will ich dich auf
meinen Rücken nehmen und versuchen, ob ich dich
hinblasen kann. "
Das Mädchen sagte, sie wolle und müsse auf das Schloß,
wenn es sich auf irgendeine Weise machen lasse; und sie
habe keine Angst, wenn es auch noch so schlimm gehen
sollte. "Nun gut, dann mußt du hier
übernachten", sagte der Nordwind. "Denn wenn
wir morgen dorthin kommen wollen, müssen wir den ganzen
Tag vor uns haben."
Früh am nächsten Morgen weckte der Nordwind das
Mädchen. Dann blies er sich auf und machte sich so groß
und dick, daß es ganz schrecklich anzusehen war; und
hierauf ging es mit einer Geschwindigkeit durch die Luft
dahin, als wenn sie gleich ans Ende der Welt gelangen
sollten. Überall unter ihnen raste ein solcher Sturm,
daß Wälder entwurzelt und Häuser eingerissen wurden;
und als sie über das Meer hinsausten, scheiterten die
Schiffe zu Hunderten. Weiter und immer weiter ging es, so
weit, wie sich's kein Mensch vorstellen kann; und immer
noch flogen sie übers Meer hin; aber allmählich wurde
der Nordwind müde, und er wurde immer schwächer und
schwächer. Schließlich konnte er fast nicht mehr
weiter; und er sank hinunter und immer weiter hinunter,
und zuletzt flog er so tief drunten, daß ihm die Wellen
an die Fersen schlugen.
"Hast du Angst?" fragte der Nordwind.
"Nein, durchaus nicht", sagte das Mädchen.
Jetzt waren sie aber auch nicht mehr weit vom Lande
entfernt, und der Nordwind hatte eben noch so viel Kraft
übrig, daß er das Mädchen auf dem Strand unter den
Fenstern des Schlosses absetzen konnte, das östlich von
der Sonne und westlich vom Mond liegt. Dann war er aber
auch so ermattet und elend, daß er viele Tage ausruhen
mußte, ehe er den Heimweg antreten konnte.
Am nächsten Morgen setzte sich das Mädchen unter die
Fenster des Schlosses und spielte mit dem goldenen Apfel;
und die erste Person, die sich zeigte, war das
Nasenungeheuer, das der Prinz heiraten sollte.
"Was willst du für deinen goldenen Apfel
haben?" fragte die Nasenprinzessin, während sie das
Fenster aufmachte.
"Er ist mir durchaus nicht feil, weder für Gold
noch für Geld", antwortete das Mädchen.
"Was willst du denn dafür haben, wenn er dir nicht
für Gold noch Geld feil ist?" fragte die
Prinzessin. "Verlange, was du willst! "
"Nun, wenn ich bei dem Prinzen, der hier wohnt, eine
Nacht schlafen dürfte, dann wollte ich dir den Apfel
geben", sagte das Mädchen, das mit dem Nordwind
gekommen war.
Darauf antwortete die Prinzessin, das ließe sich wohl
einrichten; und nun bekam sie den goldenen Apfel. Als
aber das Mädchen am Abend in die Kammer des Prinzen
hineinkam, schlief dieser ganz fest. Sie rief ihn und
rüttelte ihn, weinte und jammerte; aber sie konnte ihn
nicht aufwecken; und am Morgen, als kaum der Tag graute,
kam die Prinzessin mit der langen Nase und jagte sie
hinaus.
An diesem Tag setzte sich das Mädchen wieder unter die
Fenster des Schlosses und drehte ihre goldene Haspel. Da
ging es gerade wie am vorhergehenden Tage. Die Prinzessin
fragte, was sie für die Haspel haben wolle, und das
Mädchen antwortete, sie sei ihr weder für Gold noch
für Geld feil; aber wenn sie noch eine Nacht bei dem
Prinzen schlafen dürfe, dann wolle sie der Prinzessin
die Haspel lassen. Als jedoch das Mädchen zu dem Prinzen
hineinkam, war dieser wieder eingeschlafen, und wie sehr
sie auch weinte und jammerte und ihn rief und
schüttelte, er war nicht aufzuwecken. Gleich am Morgen
aber, sobald es hell wurde, kam die Prinzessin mit der
langen Nase und jagte sie hinaus. An diesem Tage setzte
sich das Mädchen wieder vor die Fenster des Schlosses
und spann an ihrem goldenen Rocken; und die Prinzessin
mit der langen Nase wollte ihn natürlich auch haben. Sie
öffnete das Fenster und fragte, was sie für ihren
goldenen Rocken haben wolle. Das Mädchen sagte dasselbe
wie die beiden vorigen Male, daß ihr der Rocken weder
für Gold noch für Geld feil sei, die Prinzessin könne
ihn aber bekommen, wenn sie noch eine Nacht bei dem
Prinzen zubringen dürfe. Ja, das dürfe sie gerne, sagte
die Prinzessin und nahm den goldenen Rocken. Nun hatten
aber einige Christen, die auf dem Schlosse gefangen und
in einer Kammer neben dem Prinzen untergebracht waren,
zwei Nächte hindurch ein weibliches Wesen in dem Zimmer
des Prinzen jämmerlich weinen und jammern hören, und
das sagten sie dem Prinzen. Als nun am Abend die
Prinzessin mit dem Nachttrunk kam, tat der Prinz, als ob
er trinke, goß ihn aber hinter sich aus, denn er konnte
sich wohl denken, daß sie ein Schlafmittel in den Trunk
hineingetan hatte. Und als nun das Mädchen hereinkam,
war der Prinz wach, und sie mußte erzählen, wie sie das
Schloß gefunden hatte.
" Du kommst gerade noch zu rechter Zeit", sagte
er, "denn morgen soll meine Hochzeit mit der
Prinzessin sein, aber ich will das Nasenungetüm durchaus
nicht, und du bist die einzige, die mich retten kann. Ich
werde sagen, ich wolle erst sehen, ob meine Braut auch
tüchtig sei, und von ihr verlangen, die drei Talgflecken
aus meinem Hemd herauszuwaschen. Darauf geht sie
natürlich ein, denn sie weiß nicht, daß du die Flecke
gemacht hast; doch nur Christenhände können sie wieder
auswaschen, nicht aber die Hände von diesem Trollpack.
Da werde ich sagen, daß ich nur das Mädchen heiraten
werde, das die Flecken auswaschen könne, und dich darum
bitten", sagte der Prinz. Und nun herrschte eitel
Freude und Glück bei den beiden in dieser Nacht. Aber am
nächsten Tage, als die Hochzeit stattfinden sollte,
sagte der Prinz: "Ich möchte doch erst sehen, was
meine Braut kann." Ja, das sei nicht mehr als
billig, sagte die Schwiegermutter. "Ich habe ein
sehr schönes Hemd", fuhr der Prinz fort, "das
ich auf der Hochzeit anziehen möchte, es sind aber drei
Talgflecke hineingekommen, und diese müssen vorher
ausgewaschen werden; und nun habe ich mir gelobt, nur die
zu meiner Frau zu machen, die dies tun kann. Wenn meine
Braut es nicht zustande bringt, dann taugt sie auch
nichts."
Ei, das sei keine schwere Aufgabe, meinten die Frauen und
gingen auf den Vorschlag ein. Die Prinzessin mit der
langen Nase fing auch gleich zu waschen an; sie wusch aus
Leibeskräften und gab sich alle Mühe, aber je länger
sie wusch und rieb, desto größer wurden die Flecken.
"Ach, du kannst nicht waschen!" sagte ihre
Mutter, das alte Trollweib. "Gib mir es
einmal."
Aber kaum hatte sie das Hemd in die Hand genommen, da
wurde es noch häßlicher, und je mehr sie wusch und
rieb, desto größer und schwärzer wurden die Flecken.
Nun mußten die anderen Trollweiber herbei und waschen;
aber je länger sie das Hemd wuschen, desto häßlicher
wurde es, und schließlich sah es aus, als hätte es in
einem Rauchfang gehangen.
"Ach, ihr taugt alle nichts!" sagte der Prinz.
"Da draußen vor dem Fenster sitzt ein
Bettelmädchen, das versteht sich gewiß viel besser aufs
Waschen als ihr alle miteinander. Du, Mädchen, komm
einmal herein!" rief er zum Fenster hinaus; und als
das Mädchen hereinkam, sagte er: "Kannst du mir
wohl das Hemd hier reinwaschen?"
"Ich weiß es nicht", antwortete das Mädchen,
"aber ich will es versuchen." Sie hatte aber
kaum das Hemd ins Wasser getaucht, da wurde es so weiß
wie frischgefallener Schnee, ja, noch weißer. "Ja,
dich will ich haben!" sagte der Prinz.
Da wurde das alte Trollweib so zornig, daß es
mittendurch barst, und die Prinzessin mit der langen Nase
und das andere Trollgesindel barst wohl auch mittendurch,
denn ich habe seither nie wieder etwas von ihnen gehört.
Der Prinz und seine Braut gaben nun allen Christen, die
auf dem Schloß gefangensaßen, ihre Freiheit wieder, und
dann packten sie so viel Gold und Silber ein, als sie nur
fortschaffen konnten, und zogen weit fort von dem
Schlosse, das östlich von der Sonne und westlich vom
Mond liegt.
Quelle: Norwegische Volksmärchen,
Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, November 1997
Vielen Dank an Mechthild für die
Abschrift des Märchens
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